Montag, 16. Juli 2012

Offener Brief - Contra Dicken-Bashing



Lieber R.!

Die letzten Tage haben mich sehr bewegt. Konkret geht es um verschiedene auf Facebook veröffentlichte Vorher-Nachher-Fotos, wie man sie aus der Werbung von Diätpillen kennt, nur wurde hier vegane Ernährung als Schlankheitsmittel propagiert.

Waren Veganismus und Tierrechte bis vor einigen Jahren noch überwiegend im linken, alternativen, herrschafts- und gesellschaftskritischen Millieu angesiedelt, greift der "Life-Style-Schickimicki" Veganismus immer weiter um sich. Vertreten durch die hippe, trendige Fraktion der "Ach-was-bin-ich-so-toll-und-kritisch-und-ethisch-korrekt" Veganer. 

Zunächst:Ich bin dick! D I C K. Und ich bin vegan. Doch können Veganer dick sein? Schließt sich das nicht per se aus? Ich sah am Wochenende Fotos, die mir genau das weismachen wollten. 

Auf dem ersten war eine Frau, etwas pummelig, ich würde sie keinesfalls als dick bezeichnen. Von krankhaftem oder krankmachenden Übergewicht weit entfernt. Es gab viele Kommentare voller Lob und Anerkennung, aber auch Kritik, die Frau sei zu dünn, Kritik, dass dünn immer mit schön gleichgesetzt wird. Dann kam das Argument, "schlank ist gesund". Wie gesagt, die Frau war etwas mollig, weit davon entfernt, dass ihr Übergewicht als gesundheitsgefährdend einzuordnen wäre. Aber der gesundheitliche Aspekt war ohnehin unwichtig. Die positiven Kommentare bezogen sich einzig auf die Optik.

Dies war aber noch nicht genug. Als nächstes sah ich ein Foto mit zwei Frauen, die eine extrem fettleibig, im Bikini, ich schätze sie auf um die 200 Kilogramm, daneben eine sehr schlanke Frau. Über der dicken Frau stand "Ich esse Butter", über der dünnen Frau stand "ich nicht".

R., Du hast kürzlich von Deinen Gedanken zu Deinem früheren Speziesismus, bezogen auf "Deine" Kater berrichtet. Aber völlig hemmungslos führst Du eine extrem adipöse Frau im knappen  Bikini vor, wie ein Tier im Zirkus oder Zoo. Da schaut. So sieht sie aus. Wie auf dem Viehmarkt. Wo ist da Dein Schamgefühl? Das Foto wurde ursprünglich nicht von Dir ins Netz gestellt. Schon klar. Du aber bedienst Dich dieses Fotos, in dem Du es mit hochgeistigen Kommentaren versehen weiter verbreitest. Du weißt ganz genau, dass die Frau, würde sie keine Butter oder statt Butter Margarine essen, kaum dünner wäre. Genauso wie die Dünne nicht dicker wäre, würde sie Butter essen. Also was soll das? Es geht Dir nur ums Vorführen eines Menschen. Auf Kosten anderer zu zeigen wie toll, wie schlank Du selbst bist. Du kennst mindestens fünf Veganer persönlich, die pummelig bis dick sind, das weiß ich. Du weißt also, dass Du Schwachsinn verbreitest. Weißt Du, wie diese Menschen sich fühlen, wenn sie sowas sehen und lesen? Ich fühle mich scheiße und als Mensch entwertet. Für mich bedeutet vegan sein auch weiter zu denken, gesellschaftliche  Normen und Strukturen in Frage stellen. Und nein, fange jetzt bitte nicht mit den gesundheitlichen Gefahren von Übergewicht an. Die interessieren doch nur am Rande, was zählt ist die Optik. Ungesund ist außerdem vieles. Rauchen, Zucker, Bewegungsmangel.

Was soll mit dicken Veganer passieren? Sollen sie von Infoständen und Aktionen ausgeschlossen werden? Denn wer dicke Veganer sieht, dem kann man das Lügenmärchen vom schlanken Körper durch vegane Ernährung nicht mehr auftischen. Übrigens gibt es Untersuchungen, dass Übergewicht in unteren sozialen Schichten weit stärker verbreitet ist, als im Bildungsbürgertum. Untersuchungen sagen ebenfalls, dass Veganer und Vegetarier eher letzterer Schicht entstammen. Liegt es nicht vielleicht daran, dass Veganer seltener übergewichtig und gesünder sind, als der Durchschnitt? Da hierzu Vergleichsstudien fehlen, können hier allenfalls Vermutungen angestellt werden.

Vielleicht beleidigen Dicke aber auch Dein ästhetisches Empfinden? Dicke passen irgendwie nicht in die schöne, neue, cleane, durchdesignte Lifestyle-Veganer-Welt. An dieser schönen, neuen Welt, dürfen nur Din-genormte, also schlanke Veganer teilhaben. Aber auch nur wenn sie die neuesten und schicksten veganen Lifestyle Klamotten tragen. Selbstverständlich Bio und Fairtrade. Schließlich achten wir Menschenrechte und die Umwelt. Menschenrechte gelten selbstverständlich nicht für Dicke. Wer Menschenrechte in Anspruch nehmen will, soll halt abnehmen. Ist doch ganz einfach. Wusstest Du, dass sogar das Lebensrecht von potentiell!!! Dicken in Frage gestellt wird?  Ob sie ihr Kind abtreiben würden, wenn es eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit hätte, dick zu werden, wurden junge amerikanische Paare gefragt. 75 Prozent antworteten mit ja.  (Steht hier) Joa, ich höre sie schon schreien, "nimm halt aber und jammere nicht". Ich habe alles versucht, es funktioniert einfach nicht, obwohl es zwei Drittel meines Lebens absolute Priorität hatte. Keine Diät, die ich nicht gemacht habe. Keine Ernährungsumstellung, die nicht nicht versucht habe. Und außerdem, warum soll ich mich irgendwessen Normen unterwerfen? Ich esse auch kein Normessen (Fleisch, Eier, Milchprodukte). Da grenze ich mich bewusst ab. Warum soll ich also das Schönheitsideal dieser Gesellschaft übernehmen? Ich versuche mich selbst anzunehmen, wie ich bin. Das fällt aber sehr schwer, vor allem, weil man immer wieder eins reingewürgt  bekommt. Dies war von Dir lieber R. vielleicht nicht böse gemeint. Vielleicht war es nur gedankenlos. Genauso wie andere gedankenlos Tiere essen. Es gibt viele Gründe für Übergewicht. Manche haben durch jahrelange Diäten einen kaputten Stoffwechsel, andere massive psychische Probleme. Meinst Du, jemand frisst sich 200 Kilo einfach so an? Meinst Du nicht, dass mehr dahinter steckt? Eine ernsthafte Essstörung, die gewiss ihre Ursachen hat? Würdest Du Menschen mit Behinderungen auch so vorführen? Ja, jetzt kommt "die können nichts dafür". Kann jemand was für eine Essstörung? Essstörungen sind psychische Krankheiten! Da kann man jemandem auch vorwerfen, dass er ein Psychose hat. Und kriegt man eine Essstörung einfach so los? Oder ist das nicht ein Prozess, der sich über viele Jahre hinzieht und viele Rückschläge beinhaltet?

Skuril übrigens all jene, die, wenn ich unglücklich bin, weil ich dick bin, mich zu dick fühle, auf mich einreden ich sei nicht dick, nur etwas mollig oder kurvig und mir erzählen, ich sei total hübsch und süß. In einer Singlebörse geben sie  beim gewünschten Figurtyp dann aber dünn und schlank an. (Du bist gemeint B.). 

Und R., hast Du Dich nicht kürzlich erst beklagt, wie viele Veganer verheimlichen, dass sie Veganer sind? Liegt vielleicht auch an den gängigen Vorstellungen vom dünnen Veganer, die bei Dicken oftmals zu dummen Bemerkungen führen. Falsche Vorstellungen an deren Verbreitung Du eifrig mitwirkst.

Ach ja, ich schreibe unter Pseudonym, weil ich mich schäme. Ich schäme mich nicht nur dick zu sein, ich schäme mich auch, weil ich mich für mein Dicksein schäme. Ich tue immer so, als wäre es mir egal. Es ist mir aber nicht egal. Ich würde mich am liebsten auflösen.

Wobei, mollig, dick, fett, ist alles relativ. Ich bin 163 cm groß und wiege 69 Kilo und bin recht sportlich. Radfahren und Jazztanz.

Ob das ein Grund ist, dringend abzunehmen oder ob das völlig in Ordnung ist, da werden die Meinungen auseinander gehen. Für die einen sind 69 Kilo bei dieser Größe eine Katastrophe. Z. b. eine Freundin, 179 cm groß, Gewicht schwankt zwischen 56 und 58 Kilo, Wunschgewicht ist 55 Kilo, die sie immer nur kurzfristig erreicht, aber nicht halten kann. Einmal wog sie 60 Kilo und heulte rum, sie würde aussehen wie ein Hängebauchschwein. Das hat gesessen. Ich fragte mich, wie ich wohl aussehen muss. Ich fühlte mich tagelang, als hätte ich die Ausmaße eines Elefanten.

Ich habe diesen offenen Brief verfasst, weil ich eine kritische Auseinandersetzung mit Schönheitsidealen, (die sich jederzeit ändern können, ich erinnere an Rubens), wichtig finde. Wer eine bessere Welt will, der muss sich umfassend mit ALLEN Diskriminierungsformen auseinandersetzen und vor allem muss, wer eine andere, bessere Welt will, muss bei sich selbst anfangen. Das eigene Verhalten reflektieren und kritikfähig sein. Es geht mir dabei nicht nur um mich. Viele werden nicht verstehen, wieso ich mich dick finde. Ich finde mich sogar, wenn ich unvoreingenommen in den Spiegel gucke, recht hübsch. Aber ich bin dick und dick=hässlich. Also kann ich nicht hübsch sein. Hier kann ich nur sagen, die Gehirnwäsche wirkt. Insbesondere Mädchen werden von klein auf einer Gehirnwäsche unterzogen. Dünnsein ist das größte und wichtigste im Leben. "Nichts schmeckt so gut, wie dünn sein sich anfühlt" (angeblich von Kate Moss). Und nochmal: Mir soll keiner mit gesundheitlichen Gründen kommen. Wer will denn wegen der Gesundheit abnehmen? Allenfalls ein verschwindend geringer Anteil.

Ich denke, ich spreche für viele.

Nebenbei finde ich es eine unglaubliche Verschwendung gegen den eigenen Körper zu kämpfen, anstatt seine Kraft für den Kampf gegen Tierausbeutung zu verschwenden.

Ein Mensch

P.S. 
1. Wer sich angegriffen fühlt, hat sicher einen Grund dazu.
2. Um einer inhaltlichen Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen, kann  man   mir natürlich Feigheit vorwerfen, weil ich anonym poste. Die Gründe hierfür habe ich genannt. Mein Selbstwertgefühl ist nicht ausreichend, dem standzuhalten. Dennoch finde ich einen Diskurs über Dicken-Bashing, Norm-Veganer und Schönheitsideale wichtig.
3. Das Übergewicht ab einem gewissen Punkt gesundheitsgefährdend ist, steht außer Frage. Darüber müssen wir nicht diskutieren. Auf den veröffentlichten Fotos sieht man aber Leute mit ein paar Kilos zu viel (wobei sich hier wieder die Frage stellt, wer darüber bestimmt, was zu viel ist). Wenn es um den gesundheitlichen Aspekt geht, könnten wir auch Vegane Raucher bashen und Fotos von ungesund aussehenden, viel zu dünnen Veganern mit Zigarette in der Hand zeigen.

Edit: Der Adressat fühlte sich gleich angesprochen, entfernte mich umgehend von seiner Freundeliste und setzte mich auf Ignore.

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